„Es herrscht ein erheblicher, politischer Handlungsbedarf“

Nach neuer Aufforderung durch EU-Parlament: Humanistischer Verband Deutschlands appelliert an Bundespolitik, die systematische Benachteiligung nichtreligiöser Menschen abzubauen.

Im Verhältnis zwischen Religionen und Weltanschauungen und zwischen religiösen und nichtreligiösen Menschen fehlt es in der Bundesrepublik auf vielen Ebenen an benachteiligungsfreien, zeitgemäßen und nachvollziehbaren Regelungen. Darauf weist erneut der Humanistische Verband Deutschlands hin. Der Abbau von Benachteiligungen der Konfessionsfreien, die praktische Gleichstellung nichtreligiöser Weltanschauungen und die Erneuerung des Religionsverfassungsrechts: So lauten die zentralen Themen eines aktuellen Aufrufes an die Mitglieder des Deutschen Bundestages.

In dem am Mittwoch an die 631 Abgeordneten des Parlaments übergebenen Schreiben erinnert Frieder Otto Wolf, Präsident des Humanistischen Verbandes, an die Ende Februar 2014 vom Europäischen Parlament (EU-Parlament) verabschiedete Entschließung zur Lage der Grundrechte in der Europäische Union 2013/2078(INI).

Die Entschließung bekräftigt das Recht aller Menschen in der Union auf Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Glaubensfreiheit sowie das Recht, keinen religiösen Glauben besitzen zu müssen und das Bekenntnis zu wechseln. Weiter heißt es, eine klare Trennung zwischen nicht-konfessionellen politischen Instanzen und religiösen Instanzen sowie die Unparteilichkeit des Staates seien die besten Mittel, um Gleichheit zwischen religiösen und nichtreligiösen Menschen sowie zwischen den Religionen und Weltanschauungen zu garantieren. Das Europäische Parlament hat die Mitgliedsstaaten außerdem aufgerufen, die Freiheit der Menschen ohne Religion vor Benachteiligungen, etwa durch exzessive Ausnahmeregelungen für Religionen in den Gleichbehandlungs- und Anti-Diskriminierungsgesetzen, zu schützen.

In der Bundesrepublik Deutschland gehören mehr als ein Drittel der Bevölkerung keiner traditionellen Konfessionsgemeinschaft an, erinnerte Frieder Otto Wolf in seinem Schreiben. Trotzdem gebe es bis heute „Diskriminierungen und erhebliche Mängel bei der Gleichbehandlung von Menschen ohne Konfession oder mit einem anderen weltanschaulichen Bekenntnis“. Diese resultieren unter anderem aus Privilegierungen der christlichen Kirchen im Arbeitsrecht, durch Monopole oder das Fehlen von angemessenen Alternativen im Sozial- und Bildungswesen, bei der Interessenvertretung in den Gremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, fehlende Berücksichtigung bei öffentlichen Ereignissen wie staatlichen Trauerakten und ähnlichen Anlässen oder auch durch die „fehlende staatliche Einbeziehung in organisierte öffentliche Diskursräume, wie sie z.B. im Rahmen der Deutschen Islam Konferenz für Musliminnen und Muslime angeboten werden.“

Aufgrund der in den vergangenen Jahrzehnten erfolgten religiösen und weltanschaulichen Pluralisierung herrsche darüber hinaus ebenfalls „ein erheblicher politischer Handlungsbedarf“, so Frieder Otto Wolf. Die erheblichen Benachteiligungen für konfessionsfreie und nichtreligiöse Menschen, die konsequente Gleichstellung von Weltanschauungsgemeinschaften sowie die Entwicklung eines modernen Weltanschauungsverfassungsrechts seien Aufgaben, welche die Abgeordneten des Deutschen Bundestages dringend aufgreifen müssten.

Die nun „in der Resolution des Europäischen Parlaments thematisierten Grundrechtsprobleme kann unsere Gesellschaft nur gemeinsam bewältigen“, betonte Frieder Otto Wolf abschließend. „Von Ihnen erwarten wir, dass Sie die systematische Benachteiligung konfessionsfreier und nichtreligiöser Menschen in Deutschland nicht hinnehmen.“

Aktuellen Anlass für notwendige Reformen, auch über die konkrete Bundespolitik hinaus, bietet unter anderem das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum ZDF-Staatsvertrag. In diesem und weiteren Rundfunkstaatsverträgen wurden zwar bislang Vertreter der Kirchen und anderer Religionsgemeinschaften für die Besetzung von Kontrollgremien vorgesehen, an der Einbeziehung von Repräsentanten konfessionsfreier und nichtreligiöser Menschen fehlt es hingegen. In seiner Urteilsbegründung erklärte das höchste deutsche Gericht hier, dass Aufgabe der Kollegialorgane sei, „Personen mit möglichst vielfältigen Perspektiven und Erfahrungshorizonten aus allen Bereichen des Gemeinwesens zusammenzuführen.“ Und weiter: „Neben großen, das öffentliche Leben bestimmenden Verbänden  müssen untereinander wechselnd auch kleinere Gruppierungen, die nicht ohne weiteres Medienzugang haben, und auch nicht kohärent organisierte Perspektiven abgebildet werden.“

Anlässlich der politischen Debatten um den in Artikel 140 Grundgesetz verankerten Auftrag zur Ablösung der sogenannten historischen Staatsleistungen an die Religionsgemeinschaften hatte der Humanistische Verband zum Beginn dieser Woche erstmalig ein eigenes Eckpunktepapier zur Frage vorgestellt, mit welchen Zielen der Bund und die Länder den seit 1919 bestehenden Verfassungsauftrag umsetzen sollten.

Wissenschaftliche Experten haben ebenfalls wiederholt auf den deutlichen politischen und rechtlichen Reformbedarf hingewiesen. So beurteilte Ulrich Willems, Forscher am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster die religionspolitische Lage in der Bundesrepublik Deutschland als „schlecht vorbereitet“. Laut einem im vergangenen Jahr für ein Themenmagazin der Evangelischen Kirche in Deutschland veröffentlichten Beitrag trage die Politik „durch die langjährige und anhaltende Vernachlässigung der Religionspolitik ein erhebliches Maß an Verantwortung für den gegenwärtigen Problemdruck.“ Diese wurde „in ihren praktischen Regelungen für eine mehrheitlich christliche Gesellschaft entworfen“, und sei „in der Frühphase der Bundesrepublik auf Länderebene aber vielfach bewusst auch so gestaltet worden, dass sie den beiden großen christlichen Kirchen einen möglichst großen Handlungsspielraum für eine christliche Prägung der Gesellschaft eröffnet.“

Laut einer internen Erhebung vom Dezember 2013 teilen 411 der 631 Mitglieder des Deutschen Bundestags ein christliches und vier Abgeordnete ein islamisches Bekenntnis. 26 Bundestagsmitglieder gaben an, konfessionsfrei oder Atheist zu sein. Keine Angabe machten 190 Abgeordnete.

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